Wien

Schneider_in, Tischler_in, Ledergalanterist_in – das waren die wenigen Berufe, die Gehörlose bis vor 20 Jahren lernen durften. Viele arbeiteten in schlecht bezahlten Hilfsjobs. Doch dank großer Hartnäckigkeit ändert sich langsam die Situation und gehörlose Menschen können zunehmend qualifizierte Berufe erlernen. So erhalten nun erstmals fünf Frauen mit Hörbehinderung ein Diplom für Sozialbetreuung Familienarbeit, Pflegeassistenz und Freizeitpädagogik. „Das wäre früher undenkbar gewesen und wir mussten hart dafür arbeiten, z.B. die Zulassungsbestimmungen für bestimmte Ausbildungen zu ändern. Ausbildner_innen und Gesetzgeber_innen erkennen dank unserer Lobbyarbeit immer mehr: Gehörlose können alles, wenn man sie nur lässt.“ erklärt Monika Haider vom Schulungsinstitut equalizent die Bedeutung dieses Meilensteins.

 

 

Berufliche Vielfalt für Gehörlose.

Während hörende Menschen bei Ausbildungen aus dem Vollen schöpfen können, sind Gehörlose in ihrer Berufswahl stark eingeschränkt. Denn Ausbildungen in Lautsprache sind für sie nicht barrierefrei und daher keine Option. Bei einigen Berufen gab (und gibt) es gesetzliche Einschränkungen, die Gehörlosen die Ausübung untersag(t)en.

Diese Ungerechtigkeit wollte Monika Haider, CEO des Schulungsinstituts für Gehörlose, equalizent, nicht hinnehmen: „Warum sollen Gehörlose nicht auch verantwortungsvolle, interessante Berufe erlernen dürfen – Berufe, die sie erfüllen und als Menschen weiterbringen?“ Gemeinsam mit ihrem Team schaffte sie es: 2018 schlossen erstmals sechs gehörlose Kindergartenassistenzpädagog_innen die Ausbildung ab. Sie arbeiten seitdem fix in Kindergärten zur Zufriedenheit aller Beteiligter. Danach folgten die Ausbildungen für Freizeitpädagogik, Pflegeassistenz und Diplomsozialbetreuung Familienarbeit.

 

Drei neue Berufsfelder für Gehörlose.

equalizent bot bei all diesen Ausbildungen zunächst einen Vorbereitungslehrgang an, in dem die Teilnehmenden – barrierefrei in Österreichischer Gebärdensprache (ÖGS) – auf die Aufnahmsprüfung vorbereitet wurden. Danach startete die eigentliche Ausbildung. Für die „Pflegeassistenz und Diplomsozialbetreuung Familienarbeit“ lernten drei gehörlose Frauen im Caritas Ausbildungszentrum Seegasse. Nach zwei Jahren entschied sich Andrea Ramovic bei der Pflegeassistenz zu bleiben. Sie arbeitet seit Februar bei der Caritas: „Ich hätte das nie gedacht, aber ich liebe diesen Beruf!“. Jenni Schuber und Laura Majoros-Mongyi schlossen noch das dritte Ausbildungsjahr ab. Im Juni wurde ihnen das Diplom für Diplomsozialbetreuung Familienarbeit überreicht.

Auch die Ausbildung für Freizeitpädagogik an der KPH Strebersdorf ging zu Ende: eine gehörlose und eine schwerhörige Frau erhielten Ende Juni ihr Diplom.

 

Notwendige Anpassungen.

equalizent begleitete die Frauen während der Ausbildung: Claudia Krejc, eine gebärdensprachliche Mitarbeiterin des Schulungsinstituts, gab ihnen Nachhilfe, bereitete sie auf Prüfungen vor, organisierte Dolmetscher_innen. Der Weg war gerade am Anfang holprig, wie auch Laura Majoros-Mongyi erzählt: „Vor allem zu Beginn war alles sehr kompliziert für mich und die Anforderungen waren enorm. Die Schule war sehr bemüht, hatte aber keine Erfahrungen mit gehörlosen Personen.“ Krejc übernahm die Rolle der Vermittlerin. So konnte sie die Verantwortlichen zum Beispiel dahingehend sensibilisieren, dass die gehörlosen Teilnehmerinnen ihre Prüfungen nicht schriftlich, sondern in Gebärdensprache abhalten durften, da Schriftdeutsch für sie eine Fremdsprache ist. Auch Missverständnisse zwischen hörender und gehörloser Welt galt es aufzuklären. „Die Offenheit war von allen Seiten da. Mein Wissen über die Gehörlosenkultur war trotzdem immer wieder notwendig, damit sich alles einspielt,“ berichtet Krejc vom Zusammenwachsen als Team.

 

 

 

Für alle ein Vorteil.

Berufspraktika zeigten, dass die Verständigung mit Klient_innen gut funktionierte. Lippenlesen, aufschreiben, Pantomime und guter Willen hieß dabei das Erfolgsrezept. Gebärdensprache erwies sich als besonders hilfreich, speziell bei Menschen mit Autismusspektrumsstörung oder Demenz. Laura Majoros-Mongyi erlebte, wie ein Bub mit selektivem Mutismus durch Gebärden einen Weg fand, mit seinem Umfeld zu kommunizieren. Die alten Menschen schätzten die große Ruhe, die von den gehörlosen Frauen ausging. Dass Gehörlose aufgrund ihrer visuellen Stärke rasch veränderte Gemütszustände wahrnehmen, ist ein weiterer Pluspunkt für Familien und Menschen in Pflegeinstitutionen. „Die Ausbildung bei der Caritas hat mir viel theoretisches Wissen gebracht. Und meine Sicht auf Menschen hat sich auch sehr verändert. Ich bin so stolz, dass ich durchgehalten habe!“ resumiert Majoros-Mongyi.

 

Starkes Team.

Neben den gehörlosen Frauen selbst ist ein ganzes Team ist für den Erfolg verantwortlich: equalizent sorgte mit seiner Expertise für die gebärdensprachliche Vorbereitung und Begleitung. Die Caritas der Erzdiözese Wien und KPH Strebersdorf führten die Ausbildungen durch und ließen sich aus voller Überzeugung auf dieses unbekannte Terrain ein. Das Sozialministeriumservice Landesstelle Wien und das AMS waren für den unabdinglichen Part der Finanzierung zuständig, indem sie die Dolmetschkosten, Schulgeld und DLU (Deckung des Lebensunterhaltes) übernahmen. Das Team arbeitete sehr konstruktiv zusammen, getragen von der gemeinsamen Vision, gehörlosen Menschen gerechtere Berufsaussichten zu ermöglichen.

 

Mehr gehörlose Role Models.

Die Erfolge der letzten Jahre beim Öffnen von Berufen für Gehörlose bestärken Monika Haider in ihrem Weg: „Menschen mit Hörbehinderung haben kaum gehörlose Vorbilder, denn sie wachsen zu 90% in hörenden Familien auf. Aber jetzt gibt es auf ihrem Bildungsweg bereits gehörlose Role Models im Kindergarten, an Schulen und in der Freizeitbetreuung.“ Gehörlose Kinder sehen jetzt, dass ihnen beruflich viele Möglichkeiten offenstehen, dass sie sich nicht auf Hilfsberufe beschränken müssen. Das ist ein wahrer Meilenstein.

 

equalizent.

equalizent GmbH ist ein Unternehmen mit langjähriger Expertise zu Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit, Gebärdensprache und Diversity Management. In diesen Bereichen bietet das Institut Schulungen und Beratung für hörende und gehörlose Menschen sowie für Unternehmen an. Seit 2007 organisiert equalizent alljährlich den Diversity Ball, um gesellschaftliche Vielfalt zu feiern und sichtbar zu machen. Unsere Ausstellung „HANDS UP – Eintauchen in die Welt der Gehörlosen“ macht das Thema Gehörlosigkeit erlebbar und trägt so zur Sensibilisierung bei. 2004 gegründet, arbeiten 60 Personen im Unternehmen, davon rund 30% gehörlos. equalizent ist bilingual, barrierefrei und lebt Diversity im Arbeitsalltag.

www.equalizent.com

Fotocredit: © equalizent

Pressekontakt

Rückfragen an:

Mag.a Karin Eckert
Öffentlichkeitsarbeit
Obere Augartenstraße 20
1020 Wien
karin.eckert@equalizent.com
Tel: 01/ 409 83 18 DW 24

Bildernachweis

equalizent GmbH